"Vieles ist individuell nicht aushandelbar"

Die lebhafte Diskussionsrunde am Ende des ersten Tages des KAAT-Dialogs hätte sich gern noch bis in die Nacht ziehen dürfen – aus Zeitmangel musste irgendwann doch unterbrochen werden. Rund 80 Aktive waren in Kassel zusammengekommen, um sich zu vernetzen, um Impulse und Inspiration zu tanken. Vier Workshops kreisten um verschiedene Themen, die für KAAT-Beschäftigte relevant sind: Widerstände im Job, Erfolgsbeteiligung, rechtliche Entwicklungen im AT-Bereich und die Digitalisierung. Vor der Abschlussveranstaltung mit gHV-Mitglied Francesco Grioli gaben IGBCE-Gewerkschaftssekretärin Lyudmyla Volynets und Trainee Marvin Güth einen Einblick ins Thema Selbstwirksamkeit – und räumten gleich mit ein paar Illusionen auf.

Lyudmyla, Marvin, den Arbeitsvertrag komplett selbst auszuhandeln – ist das selbstwirksam?

Das ist eher… mutig. Um es vorsichtig auszudrücken. Zwar sind KAAT-Beschäftigte oft selbstbewusst, denn sie sind gut qualifiziert und gefragt. Nicht wenige leben und arbeiten mit dem Gefühl, alles allein verhandeln zu können. Wenn man sich aber die konkreten Themen anschaut, stellt man schnell fest, dass es verschiedene Einflusskreise gibt. Zum einen den, das gewünschte Gehalt durchzusetzen, vielleicht dazu noch einige Extras wie Dienstwagen oder Laptop. Aber bei größeren und nicht weniger wichtigen Themen enden die Möglichkeiten des oder der Einzelnen, wenn man den kollektiven Einfluss nicht in Anspruch nimmt.

Moment. Wichtiger als ein ordentliches Gehalt?

Ja klar. Ohne Betriebsrat schaffen es zum Beispiel nur sehr wenige, eine Erfolgsbeteiligung für sich zu verhandeln. Oder nehmen wir die 30 Urlaubstage in der Chemie- und Pharmabranche: Die kriegen wir nur kollektivrechtlich gesichert. Zukunftskonto, Zusatzversicherungen, Altersfreizeit – viele AT-ler*innen stoßen da an ihre Grenzen. Entweder, weil sie gar nicht wissen, was ihnen zustehen sollte, oder weil sie alleine kaum Einfluss auf viele der Arbeitsbedingungen haben. Vieles ist individuell nicht aushandelbar.

Selbstwirksamkeit bezieht sich also vor allem aufs Geld?

Nicht nur. AT-Beschäftigte, zum Beispiel, handeln ihr Gehalt zwar selbst aus und erhöhen es vielleicht auch ab und an. Aber erstens stößt das Gehalt ja auf die tariflichen Mindestbedingungen. Das heißt, die Gewerkschaft hat die Basis geschaffen und war vorab sozusagen schon in Verhandlungen getreten. Und zweitens handeln trotzdem viele AT-ler*innen ein Entgelt aus, das unter dem höchsten Tarifgehalt liegt! Wenn der Betriebsrat seine Arbeit gut gemacht und durchgesetzt hat, dass das AT-Gehalt nicht unters Tarifliche rutschen darf, stimmt immerhin das Geld. Freie Arbeitstage gibt es dafür aber noch lange nicht. 

Man handelt also weniger für sich aus, weil man gar nicht weiß, was man fordern kann?

Ja, viele Akademiker*innen verfügen schlichtweg nicht über ausreichendes Wissen in Bezug auf Arbeitsbedingungen. Aber auch der Einflussgrad spielt eine Rolle. Ich kann schlecht zu meinem Chef gehen und sagen: Gib mir mal fünf Tage bezahlt frei. Aber wir haben das mit einem der letzten Tarifabschlüsse ausgehandelt. Im Rahmen des Chemie-Zukunftskontos haben zum Beispiel viele Betriebsräte durchgesetzt, dass ihre Beschäftigten zwischen fünf freien Tagen und der Auszahlung des Geldes (23 Prozent des Monatsentgelts) wählen können. Was in Tarifverträgen steht, wirkt sich zwar auf die AT-Mindestvergütung aus, Wahlmöglichkeit zwischen Zeit und Geld gibt’s deshalb aber noch lange nicht. Deswegen brauchen auch AT-Beschäftigte die Gewerkschaft. Erstens, damit es auch weiterhin solche Abschlüsse gibt und zweitens, damit solche Vorteile und Wahlmöglichkeiten auch für AT-ler*innen geschaffen werden können.

Wie wichtig ist die Gewerkschaft für AT-ler*innen?

Immens wichtig. Besonders beim AT-Status. AT werde ich nämlich nur dort, wo es Tarifverträge gibt. Ohne T, kein AT. Ohne Tarifvertrag kein außertariflich. Nur wenn ich einen richtigen AT-Status mit AT-Vertrag habe, habe ich Anspruch auf AT-Mindestvergütung.

Andersherum: Wie wichtig sind AT-ler*innen für die Gewerkschaft?

Wir sind für alle Beschäftigten da. Und die AT-ler*innen müssen mit ins Boot, das ist ganz klar. Immer mehr Akademiker*innen kommen auf den Markt, wie das statistische Bundesamt zeigt. Unser Ansatz – Solidarität, zusammen sind wir stark – dieses Vokabular ist den Akademiker*innen und AT-ler*innen oft fremd. Im Rahmen ihrer akademischen Karriere und des Studiums erfahren sie zu wenig darüber, woher alles kommt. Weihnachts- und Urlaubsgeld, Urlaubstage. Viele denken, das sei von allein so gesetzt. Das ist aber nur der Solidarität zu verdanken. Und das müssen wir besprechen. Dafür brauchen wir neue Ansprache-Konzepte, die auf die Lebenswirklichkeit der AT-ler*innen ausgerichtet sind.

Wie sieht diese Lebenswirklichkeit aus?

Sie setzen sich individuell für sich ein und glauben, je mehr Ressourcen sie in sich selbst finden, Herausforderungen und schwierige Aufgaben zu managen, desto mehr Erfolg haben sie. Wir zeigen ihnen: Eure Erfolge, euer Einfluss kann noch viel stärker sein! Mit der geballten kollektiven Wirksamkeit im Rücken. Nehmt auch diese Einflussmöglichkeiten in Anspruch, kommt mit ins Boot. Dann habt ihr mehr davon, dann haben alle mehr davon.

Foto: © Nadine Cardenäo