Top-Talente ohne Top-Konditionen

Eveline Wengler hat 20 Jahre lang als freigestellte Betriebsrätin bei Bayer gearbeitet. Oft hat sie sich die Haare gerauft beim Versuch, Top-Talenten den Nutzen der Gewerkschaft näherzubringen. Mittlerweile ist jeder dritte Angestellte in der Großchemie außertariflich (AT) beschäftigt, und es werden immer mehr. Was bedeutet das für eine Gewerkschaft, deren Einfluss von ihren Mitgliedern abhängig ist? Und was für die Beschäftigten?

 

Eveline, Top-Talente können sich ihre Jobs aussuchen und verdienen gutes Geld. Die kriegen einen optimalen Arbeitsvertrag ganz gut allein geregelt, oder?

Könnte man meinen, ist aber zu kurz gedacht. Sie kommen frisch von der Uni, sind stolz und glücklich über den neuen Job, verdienen ordentlich und stürzen sich in die Karriere. Arbeitsbedingungen sind da maximal zweitrangig. Unternehmen sind ja auch klug: Sie ködern Masterabsolvent*innen, Ingenieur*innen und Promovierte als „Top-Talente“, die mehr bekommen, außertariflich (AT) bezahlt werden – aber mitunter auch viel mehr leisten müssen. Irgendwann bemerken sie Unterschiede zu ihren Kolleg*innen im Tarif. Unterm Strich sieht der eigene Vertrag trotz höheren Gehalts dann vielleicht nicht mehr so toll aus.

 

Wir reden hier von außertariflich Beschäftigten (AT). Wen betrifft das?

Mehr Menschen, als man denkt: In der Pharmabranche schon 41 Prozent der Belegschaft. AT arbeiten zwar in einem Betrieb mit Tarifbindung, haben aber einen individuell ausgehandelten Vertrag, der monetär über der höchsten Tarifgruppe zu verorten ist. Im Zweifel sollte jeder Berufseinsteiger nachfragen, ob er darunterfällt – und natürlich den eigenen Arbeitsvertrag von Betriebsrat oder Gewerkschaft prüfen lassen.

 

Wieso gibt es immer mehr AT-ler?

Einerseits verdient man als AT-ler mehr Geld. Klar. Dafür kann aber der Arbeitgeber auch leichter mit ihnen umgehen, weil viele glauben, dass sie keine Lobby haben, keine Gewerkschaft im Rücken und nicht wissen, was ihnen durch ihren individuellen Vertrag durch die Lappen geht.

 

Nenn doch mal einen typischen Fallstrick.
Unendlich viel unbezahlte Mehrarbeit, deklariert als Vertrauensarbeitszeit. Das ist dann natürlich anders formuliert. In den Arbeitsverträgen steht, dass man – nicht näher definiert – „mehr“ arbeiten muss und das mit dem Gehalt abgegolten sei. Rechtlich sind solche Dinge meistens nicht haltbar. Aber erstmal muss ich das durchschauen und dann: wo kein Kläger, da kein Richter. Wenn ich unterschreibe und mich zehn Jahre später beschwere, tja. Blöd. Außerdem fehlen AT-lern oft die jährlichen Gehaltssteigerungen, Zusatzleistungen, Sonderzahlungen und -urlaube, zusätzliche Altersvorsorge…

 

Kann man sich nicht reinfuchsen und einen guten Arbeitsvertrag selbst aushandeln?

Superman oder -woman vielleicht. Du auch? Und vor allem: wie lange hältst du das durch? Wer handelt mit 50 noch jährlich seine guten Arbeitsbedingungen aus? Meine Lebenserfahrung sagt: Das hört auf. Irgendwann geht es nicht mehr weiter hoch auf der Karriereleiter und dann fehlt die Sicherheit.

 

Du findest, dass außertariflich Beschäftigte auch abgesehen vom Vertrag dringend in die Gewerkschaft gehören. Wieso?

Wenn ganze Industriezweige abwandern müssen, weil das Gas in Deutschland zu teuer ist, finden das auch  Top-Talente nicht so wahnsinnig prickelnd. Gute Arbeitsplätze in Deutschland, für die kämpfen wir. Ob du 5- oder 6-stellig verdienst, ist ja völlig egal, wenn dein Betrieb dichtmacht. Die Gaspreisbremse konnte Michael Vassiliadis nur deshalb mit durchsetzen, weil er politisch bestens vernetzt ist. Politische Einflussnahme ist immens wichtig. Und genau dafür brauchen wir Mitglieder, die zeigen, dass es ihnen nicht egal ist, wenn Produktionsketten reißen, energieintensiven Branchen das Fundament wegbricht, wenn Betriebe schließen oder abwandern. Unsere Stimme muss gehört werden. Und dafür brauchen wir Mitglieder!

 

Fallen die paar AT-ler so stark ins Gewicht?

Die paar ist gut! In der Großchemie sind mittlerweile 35 Prozent der Beschäftigten außertariflich angestellt, Tendenz steigend. Wenn ihr nicht an Bord kommt, schwindet unser Einfluss insgesamt. Ihr steht nicht außerhalb der Gewerkschaft, im Gegenteil! Wir brauchen euch, damit die Bedingungen gut bleiben und wir stark genug sind, eure Interessen durchzusetzen. Damit man sich nicht kaputtarbeitet. Das gilt für den Fließbandarbeiter wie für den Manager! Was früher der kaputte Rücken war, ist heute der Burn-Out.

 

Wieso treten sie dann nicht scharenweise ein?

Ganz ehrlich? Gewerkschaft hat für manche einen Beigeschmack. „Der einfache Arbeiter, der auf die Straße geht. Das bin ich ja nicht.“ Der AT-Status suggeriert, dass man mit alldem nichts zu tun habe. Aber das ist wirklich Quatsch. AT ist nichts so besonderes mehr, das zeigen ja die Zahlen. Sie sind abhängig beschäftigte Arbeitnehmer mit Chancen auf eine Top-Karriere, aber nicht jeder macht diese Karriere. Manche scheitern auch an der Beitrags- Hürde. Wer 100.000 Euro verdient, überlegt, ob er sich den Mitgliedsbeitrag leisten kann. Diese Diskussionen sind ermüdend.

 

Ein Tarifvertrag für Außertarifliche, wäre das was?

Könnte ich mir sehr gut vorstellen. Es gibt ja einen „Manteltarifvertrag für akademisch gebildete Angestellte“, aber der ist so stark verklausuliert, dass oft nicht klar ist, wo er Anwendung findet. Hier wäre ein Manteltarifvertrag für AT-ler ein guter Weg – mit Abstandsregelungen zur Vergütung, die klären, wie viel mehr der AT-ler gegenüber der höchsten tariflichen Entgeltgruppe bekommt. Dinge wie Altersvorsorge, Demografie, Pflege und die Übernahme bestehender manteltarifvertraglicher Regelungen, als da wären Zuschläge, Rufbereitschaft und Freistellungen, könnten beispielsweise Bestandteil dieses neuen Tarifvertrages sein. Vieles muss aktuell im Betrieb verhandelt und durchgesetzt werden, sonst hat man keinen Anspruch drauf. All das, auch Arbeitszeiten, könnte man regeln in einem Tarifvertrag für AT-ler. Und damit sie einen solchen gut verhandeln kann, braucht die IGBCE viele AT-Mitglieder. Das wäre ein guter Blick in die Zukunft!